Imágenes de páginas
PDF
EPUB

137998

Archiv für Philosophie.

I. Abtheilung:

Archiv für Geschichte der Philosophie.

Neue Folge. XV. Band 1. Heft.

I.

Wie sich Spinoza zu den Collegianten verhielt.

Von

W. Meijer im Haag.

Es ist jetzt wohl allgemein anerkannt, dass der Mensch in seinen Thaten und Erlebnissen das Produkt seiner Anlage und äusseren Verhältnisse ist. Wer ihn glücklich preist vor seinem Tode, trägt allen Umständen, die ihm begegnen können, keine Rechnung; wer seine Anlage nicht mit in die Rechnung zieht, stellt ihn dem unvernünftigen Thiere gleich.

Nach dem Maasse aber, als der Mensch kräftiger angelegt ist, wird er von den Umständen weniger beeinflusst; den Menschen, in dessen Leben oder Wirkungskreis das Ingenium oder die angeborene Kraft stets über die äusseren Umstände zu dominiren und ihnen gegenüber selbständig aufzutreten vermag, nennen wir ein Genie.

[ocr errors]

Der Dutzendmensch scheint bisweilen nichts anderes zu sein, als der Reflex der Sitten, Gewohnheiten und Ideen seiner zeitlichen und örtlichen Umgebung sonderbar genug von vielen Schriftstellern das „Milieu" genannt. Doch trügt hier der Schein, denn es ist Keiner, der nicht in irgend einer Hinsicht selbständig

1) Wir schreiben hier „Spinoza", obgleich das Facsimile seiner Handschrift uns überzeugt hat, dass er sich Despinoza genannt hat.

Archiv f. Geschichte d. Philosophie. XV. 1.

1

thätig wäre. Der Mann von ausserordentlicher Begabung versteht es dagegen, obschon auch dieser nicht in jeder Hinsicht sich dem fatalen Schlendrian zu entreissen vermag, über die Häupter der Menge hinwegzusehen, obgleich sie ihn von allen Seiten mit der Suggestion des Zeitgeistes bedrängt.

Ein derartiges Genie war Spinoza. Und unsere Vorfahren, welche des historischen Sinnes ebenso zu wenig hatten, als wir zuviel, haben unbewusst den rechten Weg eingeschlagen, als sie diesen riesigen Geist ganz und gar zu erklären suchten aus den grossen Ideen der Culturgeschichte der Menschheit, ohne Rücksicht zu nehmen auf die Lebensverhältnisse seiner Persönlichkeit und die beschränkten Ideen seiner Zeit- und Landesgenossen.

Das neunzehnte Jahrhundert aber hat eine ganz andere Richtung eingeschlagen. Es lässt sich von den dreissiger Jahren an fast allein von dem historischen Interesse führen, und es hat zuletzt selbst das Ewige historisch zu begreifen versucht. Folgerichtig wird an die Könige im Reiche der Gedanken derselbe Massstab angelegt wie an den erstbesten Homunculus, und man wagt es, auch die grössten Genien aus ihrer Abstammung, Lebensart, Umgebung und dem Zeitgeiste zu erklären. Eitler Versuch!

Wie mit so vielen Anderen, hat man es auch mit Spinoza gethan.

Eifrigen Archivstudien ist es gelungen, Vieles, was bis jetzt sowohl durch den oben angedeuteten Mangel an historischem Sinn, als durch Glaubenshass und Religionseifer unter dem Staube der Vergessenheit verschüttet war, wieder an's Licht zu bringen, und aus dem grossen Denker einen Menschen von Fleisch und Blut zu machen. Gern geben wir diesem Streben alle Ehre, denn je besser wir die Accidentia dieses reichen Lebens kennen lernen, desto mehr steigen die Essentia in unserer Achtung.

Wie im Voraus zu erwarten war, hat man bei diesen Untersuchungen nicht immer sogleich das Richtige getroffen, und namentlich herrscht über das Verhältniss des Spinoza zu den Collegianten m. E. bei Vielen noch ein Missverständniss, das hauptsächlich dem Umstande zuzuschreiben ist, dass die Geistesrichtung

« AnteriorContinuar »