Wesen schon gewisse moralische Eigenschaften besitzen, darf der Dichter dann diese Eigenschaften in einem höhern Grade annehmen? Allerdings! Aber nur in keinem höhern, als es sich mit dem ganzen Charakter verträgt. Der Esel hat, wie alle Thiere, ein sinnliches Erkenntnifsvermögen: dieses erhöhe man, wenn man will, zur Vernunft; aber, auch mit seiner Vernunft, bleibe der Esel noch Esel. Das eigentliche Interesse der Fabel liegt, wie wir ausgemacht haben, in der Wahrheit; und die höchste Vollkommenheit der Erdichtung wird also die seyn, die sie als Beispiel zur Wahrheit hat. Wenn nun aber in dieser Absicht zwei Erdichtungen ungefähr gleichen Werth hätten; sollte da nicht die schönere, interessantere Erfindung auch die schönere interessantere Fabel geben? Wer daran zweifeln wollte, der vergleiche folgende Stücke, in welchen beiden einerlei Wahr heit gelehrt wird. Das Gelübde. Nichts pflegt der Rachbegier an Thorheit gleich zu seyn. Ein Mann, der unverhofft sein feistes Kalb ver misste, Schwur, wenn er seinen Dieb nur zu entdecken wülste, So wollt er einen Bock dem Pan zum Opfer weihn. Sein Wunsch ward ihm gewährt. Es kam ein Pantherthier; Das gafft' und 'bleckt' ihn an, und droht' ihn zu verschlingen. Da seufzt' er: Ich will gern mein Opfer zehn fach bringen; Nur treib, o starker Pan! den nahen Feind von hier! Betrogne Sterbliche, wer kennt sein wahres Wohl, So oft Gelübd" und Wunsch den Rath der All macht störet? So lernt man allererst, warum man bitten soll. HAGEDORN. Zevs und das Pferd. Vater der Thiere und Menschen, so sprach das Pferd und nahte sich dem Throne des Zevs: man will, ich sei eines der schönsten Geschöpfe, womit du die Welt gezieret, und meine Eigenliebe heifst mich es glauben. Aber sollte gleichwohl nicht noch Verschiednes an mir zu bessern seyn? Und was meinst du denn, dass an dir zu bessern sei? Rede; ich nehme Lehre an: sprach der gute Gott, und lächelte. Vielleicht, sprach das Pferd weiter, würde ich flüchtiger seyn, wenn meine Beine höher und schmächtiger wären; ein langer Schwanenhals würde mich nicht verstellen; eine breitere Brust würde meine Stärke vermehren; und da du mich doch einmal bestimmt hast, deinen Liebling, den Menschen, zu tragen, so könnte mir ja wohl der Sattel anerschaffen seyn, den mir der wohlthätige Reuter auflegt. Gut, versetzte Zevs, gedulde dich einen Au genblick! Zevs, mit ernstem Gesichte, sprach das Wort der Schöpfung. Da quoll Leben in den Staub, da verband sich organisirter Stoff; und plötzlich stand vor dem Throne das häfsliche Kamel. Das Pferd sah, schauderte und zitterte vor entsetzendem Abscheu. Hier sind höhere und schmächtigere Beine, sprach Zevs; hier ist ein langer Schwanenhals;' hier ist eine breitere Brust; hier ist der anerschaffne Sattel! Willst du, Pferd, dass ich dich so umbilden soll? Das Pferd zitterte noch. Geh, fuhr Zevs fort; diesesmal sei belehrt, ohne bestraft zu werden. Dich deiner Vermessenheit aber dann und wann reuend zu erinnern, so daure du fort, neues Geschöpf — Zevs warf einen erhaltenden Blick auf das Kamel und das Pferd erblicke dich nie, ohne zu schaudern LESSING. Drittens für das Verhältnifs der Geschichte zur Wahrheit: die Wahrheit sei nicht nur überhaupt in der Geschichte enthalten, sondern auch klar und richtig darin enthalten. Diese Regel fliefst unmittelbar aus dem Wesen der Fabel; sie betrifft den Zweck zu welchem die ganze Erdichtung da ist. Welche von den folgenden Lichtwehrschen Fabeln ist hienach die schönste? Der Hänfling. Ein Hänfling, den der erste Flug Hob an, die Wälder zu beschauen, Die stolze Gluth der jungen Brust Dergleichen Nester giebt es wenig. Kaum stand das Nest, so wards verheert, Und durch den Donnerstrahl verzehrt. |