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einer lyrischen Ertase, die das kalte Errathen und Erschließen verbergen muß. Die prophetische Poesie fållt also in die lyrische Klaffe zurück. Die Form der Gegenwart kann ausgefüllt werden durch Beschreibung. Aber poetische Beschreibungen können in jeder Dichtungsart eine Stelle finden. Ihre Bestim= mung in der Poesie ist, wie wir oben gesehen haben, als fogenannte Figuren der Rede durch malerische Anschaulichkeit die Darstellung zu beleben. Will man die Beschreibung zu einer eigenen Dichtungsart ausbilden, so zeigt sich sogleich, daß das poetische Intereffe noch etwas mehr verlangt. Jedes beschrei= bende Gedicht ermüdet bald nach den ersten Zügen, wenn nicht durch lyrische, oder didaktische Particen das Intereffe, das ein solches Gedicht erregen soll, beståndig angefrischt wird. Denn im Innern des Gemüths, wo die Heimath der Poesie ist, gibt es kein solches Ergreifen und Fefthalten des Gegenwärtigen, wie in den Regionen der äußern Sinne. Durch das Auge kann fich die Seele in schöner Anschauung des Gegenwärtigen ver= senken; aber die Poesie soll unmittelbar das immer rege und weiter strebende Leben des Geistes aussprechen.

Das poetische Intereffe verlangt also, daß die Außenwelt, wo sie objectiv dargestellt werden soll, unter die Idee einer Handlung trete. Objective Darstellung einer Handlung in der Form der Gegenwart ist das poetische Drama. Das Scitenstück zum Drama ist das Epos, das der Form der Ver= gangenheit treu bleibt. Auf diese Art treten die vier Hauptklaffen der Dichtungsarten natürlich einander gegenüber. Warum einige Poetiker die didaktische Poesie mit Unrecht von der ihr gebührenden Stelle verstoßen, wird sich unten zeigen. Und über die Lücken, die diese Klassifikation der Dichtungsarten offen zu laffen scheint, wird die Ergänzungsklaffe Auskunft ge= ben. Jede der vier poetischen Urformen, die lyrische, die didak= tische, die epische, und dramatische Form, nimmt eine unend

liche Mannigfaltigkeit von Gemüthszuständen in sich auf. Darum aber sind diese Formen nicht etwa nur zufällig in poe= tischer Hinsicht. Sie find die Grundlage aller poetischen Composition, weil die dichtende Phantasie sich von diesen Formen nicht trennen kann, und deswegen ohne alle theoretische Weifung ihnen diejenige Schönheit entlockt, durch die sich eine Dichtungsart von der andern ursprünglich unterscheidet.

Bouterwek,

Ségur's Geschichte des ruffischen Feldzugs.

Wir haben auch den Segür überseßt. Nicht wahr, es ist ein hübsches episches Gedicht? Wir Deutschen schreiben auch epische Gedichte, aber die Helden derselben existiren bloß in unserem Kopfe. Hingegen die Helden des franzöfifchen Epos sind wirkliche Helden, die viel größere Thaten vollbracht, und viel größere Lei=den gelitten, als wir in unseren Dachstübchen ersinnen können. Und wir haben doch viel Phantasie, und die Franzosen haben nur wenig. Vielleicht hat deshalb der liebe Gott den Franzosen auf eine andere Art nachgeholfen, und sie brauchen nur treu zu erzählen, was sie in den legten dreißig Jahren gesehen und gethan, und sie haben eine erlebte Litteratur, wie noch kein Volk und keine Zeit sie hervorgebracht. Diese Memoiren von Staatsleuten, Soldaten und edlen Frauen, wie sie in Frank= reich tåglich erscheinen, bilden einen Sagenkreis, woran die Nachwelt genug zu denken und zu fingen hat, und worin, als deffen Mittelpunkt, das Leben des großen Kaisers, wie ein Riesenbaum, emporragt. Die Segürsche Geschichte des Ruß= landszuges ist ein Lied, ein französisches Volkslied, das zu die= sem Sagenkreise gehört, und, in seinem Tone und Stoffe, den epischen Dichtungen aller Zeiten gleicht und gleich steht. Ein

Heldengeschlecht, das durch den Zauberspruch « Freiheit und Gleichheit » aus dem Boden Frankreichs emporgeschoffen, hat, wie im Triumphzug, berauscht von Ruhm und geführt von dem Gotte des Ruhmes selbst, die Welt durchzogen, erschreckt und verherrlicht, tanzt endlich den rafselnden Waffentanz auf den Eisfeldern des Nordens, und diese brechen ein, und die Söhne des Feuers und der Freiheit gehen zu Grunde durch Kålte und Sklaven.

Solche Beschreibung oder Prophezeiung des Untergangs ciner Heldenwelt ist Grundton und Stoff der epifchen Dichtun= gen aller Völker. Auf den Felfen von Ellore und anderer indischer Grottentempel steht solche epische Katastrophe eingegra-ben mit Riesenhieroglyphen, deren Schlüffel im Mahabarata zu finden ist; der Norden hat in nicht minder steinernen Wor= ten, in seiner Edda, diefen Götteruntergang ausgesprochen; das Lied der Nibelungen besingt daffelbe tragische Verderben, und hat, in seinem Echluffe, noch ganz besondere Ähnlichkeit mit der Segürschen Beschreibung des Brandes von Moskau; das Rolandslied von der Schlacht bei Roncisval, deffen Worte verschollen, deffen Sage aber noch nicht erloschen, und noch unlångft von einem der größten Dichter des Vaterlandes, von Immermann, herauf beschworen worden, ift ebenfalls der alte Unglücksgefang; und gar das Lied von Ilion verherrlicht am schönsten das alte Thema, und ist doch nicht großartiger und schmerzlicher als das französische Volkslied, worin Segür den Untergang seiner Heroenwelt befungen hat. Ja, dieses ist ein wahres Epos, Frankreichs Heldenjugend ist der schöne Heros, der früh dahin finkt, wie wir solches Leid schon sahen in dem Tode Baldurs, Siegfrieds, Rolands und Achilles, die ebenso durch Unglück und Verrath gefallen; und jene Helden, die wir in der Ilias bewundert, wir finden sie wieder im Liede des Segür, wir sehen sie rathschlagen, zanken und kåmpfen, wie

einft vor dem skåischen Thore; ist auch die Jacke des Königs von Neapel etwas allzubuntscheckig modern, so ist doch sein Schlachtmuth und Übermuth eben so groß, wie der des Peliden, ein Hektor an Milde und Tapferkeit steht vor uns Prinz Eugèn, der edle Ritter, Ney kämpft wie ein Ajar, Berthier ist ein Nestor ohne Weisheit, Davouft, Darů, Caulincourt u. f. w. in ihnen wohnen die Seelen des Menelaos, des Odysseus, des Diomedes — nur der Kaiser selbst findet nicht feines Gleichen, in seinem Haupte ist der Olymp des Ge= dichtes.

H. Heine.

Ende.

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